Was passiert, wenn einer der meistgefeierten europäischen Jazz-Pianisten drei gleichgesinnte Kollegen zu vier Nächten der freien Improvisation vor Publikum einlädt? Die Antwort ist nun, verdichtet auf Longplayer-Länge, auf "XXXX" zu hören — dem großartigen neuen Album von Michael Wollny, gemeinsam mit Tim Lefebvre, Emile Parisien und Christian Lillinger.
Als Wollny, Tim Lefebvre, Emile Parisien und Christian Lillinger im Dezember 2019 im Berliner Jazzclub A-Trane zusammenkamen, wussten sie nicht, was die nächsten vier Nächte passieren wird. Der Plan war, sich auf ein vier Nächte dauerndes Improvisationsabenteuer einzulassen, aufgeteilt in acht Sets. Keine komponierten Stücke, keine vorab ausgemachten Arrangements, keine festen Regeln. Obwohl das Quartett bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal als solches zusammenspielte, hatte Wollny sowohl mit Lefebvre, Lillinger als auch Parisien in der einen oder anderen Form bereits zusammengearbeitet.
Vier Nächte und acht Sets bieten jede Menge Raum zum Erforschen und Ausloten, aber auch genügend Raum zum Scheitern — aus diesem Grund sei er im Vorfeld durchaus nervös gewesen, erzählt Wollny im Interview. Das Experiment glückte: Es wurden vier großartige Nächte, ekstatisch, wild und ungezwungen — ohne die fixe Vorgabe, das Material irgendwann zu einem Album zu machen.
Ein paar Monate später flog Wollny nach Atlanta, um sich mit Lefebvre und dem Toningenieur Jason Kingsland zu treffen. Gemeinsam erarbeiteten sie eine Dramaturgie dessen, was in diesen vier Nächten aufgenommen worden war, und verdichteten es zu einem Album. Obwohl es frei improvisiert ist (abgesehen vom Schlusstrack, was Wollny später in diesem Interview erklären wird), bietet "XXXX" ein kohärentes Hörerlebnis, eine Momentaufnahme, bei deren Entstehen man nicht dabei gewesen sein musste, um sich nun auf Platte davon mitreißen zu lassen.
Rückblickend betrachtet, markieren diese vier Nächte im A-Trane das Ende des Alltags, wie wir ihn einmal kannten. Ein paar Monate später ging die Welt in den ersten Lockdown - und Wollny nahm, in völliger Abgeschiedenheit und Introspektion, sein erstes Soloalbum "Mondenkind" auf.
Ich sprach mit Michael Wollny via Zoom.
Wenn Sie sich an jene vier Abende im A-Trane im Dezember 2019 erinnern, an denen die Aufnahmen entstanden: Was kommt Ihnen da in den Sinn?
Es wirkt auf mich wie dieser eine letzte, völlig verrückte Moment vor dem Stillstand. Die Abende waren eigentlich als eine Art Laborexperiment am Ende des Jahres geplant, als Möglichkeit, mit alten Freunden auf die Bühne zu gehen, um etwas zu machen, das wir so noch nicht gemacht haben. Am Ende wurde es ein viertägiger Rausch aus Musik, Stimmung und Begeisterung; aus Club, Nähe und Intensität, alles war darin kondensiert. All das, was wir momentan am meisten vermissen, ist an diesen vier Tagen passiert.
Gab es Vorgaben, die Sie sich selbst gesetzt haben oder Abmachungen unter den Musikern? Beispielsweise, wer von Ihnen welches Equipment, welche Effektpedale mitnimmt?
Es gab keine Absprachen im Sinne von Leadsheets, Setlists oder Kompositionen. Ich habe im Vorfeld mit Tim öfter hin und her geschrieben, wir haben uns etwa Clips von Effektpedalen zugeschickt. Mit ihm habe ich im Vorfeld auch lange über Krautrock-Bands gesprochen. Über Cluster, Can, Neu! oder auch Beak, das Krautrock-Projekt von Geoff Barrow von Portishead, für mich eine der besten Bands zur Zeit überhaupt. Wir haben aber keine Verabredung getroffen, wer welches Equipment mitnimmt — das stellte sich alles erst auf der Bühne heraus. Wir haben auch innerhalb dieser vier Tage einiges diesbezüglich verändert. Am Morgen des zweiten Konzerttags waren Tim und ich in einem Musikladen in Berlin-Mitte und wir haben noch ein Overdrive-Pedal gekauft, weil das alte nicht gut klang.
In den Liner Notes ist zu lesen, dass das Stück "Nostalgia For The Light" von Ihnen komponiert wurde, demnach nicht frei improvisiert ist.
Dieses Stück hatte ich als vorproduziertes Zuspielband mitgenommen, ich hatte es zuhause auf dem Laptop programmiert. In dem Moment, als es passend schien, habe ich es abgefeuert und die anderen haben dazu gespielt. Ich hatte es auch dabei, als ich zur Mixing Session nach Atlanta flog, da ich dachte, dass man vielleicht etwas davon benutzen konnte. Am Ende wurde das Stück zum Standalone-Track, einer Coda für diesen ganzen Rausch davor. Es ist eine Art Nachsatz geworden. Ursprünglich hatte ich das Stück als frühe Phonola-Skizze für das Bauhaus-Projekt geschrieben. Wir haben das Stück damals aber nicht benutzt und es lag immer noch auf meiner Festplatte. Es hatte sozusagen seine erste Wiedergeburt als Zuspielband im A-Trane und dann die zweite Wiedergeburt im Studio.
Auf "XXXX" spielen Sie Synthesizer, Fender Rhodes — Piano eigentlich auch?
Im A-Trane steht auf der Bühne dieser Flügel, den ich an einigen, wenigen Stellen gespielt habe. Im Flügel hatte ich zwei Bluetooth-Monitore platziert, die mit einem Tablet verbunden waren. Darüber konnte ich Samples abspielen, die dann nicht aus der PA, sondern quasi aus dem Inneren des Instruments kamen. Das sorgte für eine Art klanglicher 3D-Effekt im Club. Im Nachhinein hört man das natürlich nicht, da die Platte ja einen ganz anderen Klangraum bietet als das, was an diesen Abenden auf der Bühne passierte. Aber es gab auf der Bühne diese dreidimensionale Klangidee. Eben, dass es nicht nur die PA gibt, sondern auch das Live-Akustische, die Monitore im Instrument, den Fender-Verstärker. Aus all diesen Ecken kam Klang.
Es verschmolz alles zu einem Momenterleben — man ist so sehr in diesem Moment verhaftet, dass man das Übergeordnete gar nicht mitbekommt.
Haben Sie an diesem Abend auch Hardware-Synthesizer genutzt?
Ich hatte einen Minilogue dabei. Dazu noch einige Pedale, einen kleinen Mixer, Effektgeräte, ein Pedalboard mit Space Echo und einen Overdrive. Den Flügel hatte ich im A-Trane ebenfalls über dieses Mischpult laufen, sodass ich darüber Effekte zuschalten konnte. Zu hören ist das beim Ende von "Too Bright In Here": da gibt es eine Art Basssolo-Rockteil. An einer Stelle kommt schließlich ein Keyboard-Solo dazu. Dabei handelt es sich aber um kein Keyboard, sondern um den Flügel mit einem Whammy-Effekt. Dieser erklingt in verschiedenen Oktaven, nach oben gepitcht, ein wenig Mickey-Mouse-mäßig. Zusammengefasst: Es gab das akustische Klavier, das Rhodes-Piano und den Minilogue als Tastatur — und dann eben diverse Kanäle und Effekte, um die zu verschmelzen.
Mit Tim Lefebvre spielten Sie bereits in Ihrem Trio, Emile Parisien war auf Ihrem Album "Wartburg" zu hören — haben Sie auch mit Christian Lillinger schon zuvor gearbeitet?
Christian und ich kennen uns schon sehr lange. Wir haben uns über Joachim Kühn kennengelernt. Zu jener Zeit spielte er im Trio mit Joachim — und ich im Duo. Wir sind uns auf einem Festival das erste Mal begegnet. Vor etwa zehn Jahren haben wir eine gemeinsame Trio-Tour mit Jonas Westergaard am Bass gespielt. Diese folgte im Prinzip der gleichen Prämisse: Wir haben frei gespielt, es gab keine komponierten Stücke. Auf der Suche nach einem interessanten Gegenpart zu Tim kam mir schließlich der Gedanke, dass ich Christian fragen könnte, obwohl die beiden so unterschiedlich sind. Ich war mir irgendwie sicher, dass die beiden zueinander finden würden. Schon beim Soundcheck hat sich das dann bestätigt. Das war eine Art Explosion.
Gab es am Anfang eine Art Herantasten an die Situation?
Ja, ein wenig. Tim wusste von Emile schon lange, bevor sie sich getroffen haben und ich glaube, er hat sich in den Tagen vor den Konzerten auch mit Christians Musik beschäftigt. Jeder wusste, was der andere so macht. Dadurch, dass in dem Moment, als wir zusammenkamen, noch keine Erwartungshaltung da war — zum Beispiel, dass wir eine Platte aufnehmen würden, das war gar nicht Sinn und Zweck — war alles sehr ungezwungen. Ich muss aber auch sagen, dass ich die Abende davor ziemlich nervös war. Die Idee, diese vier Leute zusammenzubringen: Das kann gut funktionieren, aber wenn es nicht funktioniert, dann sind acht freie Sets schon ganz schön lange. Da gibt es dann genug Zeit, um immer wieder zu scheitern. Dieses Risiko war bis zum Soundcheck nicht richtig berechenbar. Ich weiß nicht, was wir gemacht hätten, wenn es gar nicht funktioniert hätte. Es gab kein Netz. Ein Herantasten passierte eher im Vorfeld über einen SMS-Austausch — und später dann über das Gespräch vor Ort. Man merkte sofort, dass sich alle sehr respektieren, dass alle Lust aufs Spielen und aufs Ausprobieren haben.
Konnten Sie sich beim Durchhören des Materials an das erinnern, was auf der Bühne passierte? Oder war das so ein rauschhaftes Erleben des Moments, sodass es gar keine konkreten Erinnerungen gab?
Ich hatte keine Erinnerung mehr an die Dramaturgien der einzelnen Sets. Ich hatte bestimmte Momente in Erinnerung, bei denen es explodiert ist. Aber ich konnte es zeitlich nicht einordnen. Es verschmolz alles zu einem Momenterleben — man ist so sehr in diesem Moment verhaftet, dass man das Übergeordnete gar nicht mitbekommt. Das erkennt man dann erst beim Abhören.
Diese chemische Formel, die auf dem Cover zu sehen ist, ist ein Halluzinogen — der Rausch dieser Abende sollte somit zur Leitformel werden.
Sie haben das Album dann in den USA gemeinsam mit Tim Lefebvre und Jason Kingsland ausgearbeitet und gemischt. Wie lief dieser Prozess ab?
Oft ist es ja gefährlich, wenn man sich beim Spielen zu gut fühlt, da kann es zu bösen Überraschungen kommen. Im Januar 2020 habe ich die Bänder rumgeschickt — und es kam von allen Seiten Begeisterung. Tim brachte dann gleich Jason ins Spiel. Die beiden sind Freunde, arbeiten immer wieder an gemeinsamen Projekten, und Tim dachte, daß er genau der Richtige wäre, um an diesen Live-Aufnahmen zu arbeiten. Wir suchten zunächst einen Zeitpunkt, an dem wir uns in Jasons Studio in Atlanta treffen konnten. Tim war zu der Zeit mit Wayne Krantz unterwegs, Jason nahm Bands aus Atlanta auf. Irgendwann gab es diese vier Tage, an denen wir alle Zeit hatten. Aber selbst da war es gar nicht so sehr das Ziel, eine Platte daraus zu kondensieren. Wir fanden das Material interessant, sahen viele Möglichkeiten. Ich dachte mir, ich fliege einfach mal hin und wir sehen, was passiert. Die einzige Erwartungshaltung war, am Ende eine interessante Erfahrung gemacht zu haben, zu sehen, wie man im Studio eine solche Musik bearbeiten kann. Oder um am Ende vielleicht ein paar Loops zu haben, aus denen man etwas bauen kann. Aber je näher das rückte — eigentlich schon auf dem Flug nach Atlanta, bei dem ich alles sortiert habe — stellte sich heraus, dass es sich hierbei um wirklich gutes Material handelt, aus dem man durchaus eine Dramaturgie bauen konnte. Im Studio ging es dann sehr nonlinear zu. Jason kannte die Aufnahmen noch nicht und es ging schon beim ersten Abhören los, dass er dieses sehr räumliche Stereobild entwickelte. Wir waren sehr beeindruckt von der technischen Qualität der Aufnahme, davon, wie gut die Trennung in einem solchen Club möglich war. Es war sehr laut im A-Trane, ich hätte mir auch gut vorstellen können, dass auf der Aufnahme gar keine wirkliche Spurentrennung möglich ist, dass alles verzerrt ist. Es war aber sehr gut aufgenommen und vorsortiert, Gleb Zagrebin, der Engineer im Club hat da wirklich einen Riesen-Job gemacht. Jason begann gleich beim ersten Hördurchgang mit kleinen Soundverbesserungen. So blieben wir bei einer Szene hängen, beschäftigten uns etwa mit dem Schlagzeug, dem wir diesen dunklen, etwas kaputten Sound gaben. Mit derselben Einstellung sprangen wir dann zwei Abende weiter und arbeiteten an anderen Ideen. Es war eine Puzzle-Arbeit, bei der wir noch keine finale Vision hatten. In der dritten Nacht habe ich mich mit den größten Puzzlestücken zurückgezogen und versucht, diese zu sortieren. So entstand jener Bogen, der jetzt dieses Album ist. Nur eines hatten wir nicht: einen Schluss. Dieser besteht nun aus jenem Zuspielband, über das wir vorhin gesprochen hatten und das jetzt als Coda fungiert.
Sie haben dann also nichts mehr fundamental defragmentiert und umgebaut.
Genau. Ich bin mit der Erwartung hingefahren, dass wir viel editieren werden. Dass wir Teile rausnehmen, Sachen loopen, ich vielleicht noch etwas drüberspiele. Richtiges Editieren, richtige Modifikation hat gar nicht stattgefunden. Es ist stets das zu hören, was im Club gespielt wurde, insgesamt gibt es nur drei oder vier Sprünge von einem Abend zum nächsten — aber eben klanglich überarbeitet, überhöht, vielleicht noch mehr auf den Punkt gebracht.
Was hat es mit dem Songtitel "Michael vs. Michael" auf sich?
Das war eine Idee von Tim. Ich spiele in dem Stück ein Solo, das wir duplizierten und in der Postproduktion durch ein Pedal schickten. Auf dem linken Kanal ist das originale Solo zu hören, auf dem rechten das Duplikat, das durch eine Art Zeitverzerrung geht. Diese beiden Soli kommen sich in die Quere, überlagern sich, nehmen sich was weg, laufen zusammen. Zwei Identitäten, die miteinander in Konflikt kommen und sich wieder versöhnen.
"XXXX" steht für Explore, Expand, Exploit, Exterminate. Können Sie etwas zu diesem Titel erzählen?
Wir dachten uns sowohl die Titel der Stücke als auch jenen des Albums im Nachhinein aus. Wir hatten zuerst die Idee mit dem Bild Labor, Chemie, Reaktion und Verschmelzung zu thematisieren. Diese chemische Formel, die auf dem Cover zu sehen ist, ist ein Halluzinogen — der Rausch dieser Abende sollte somit zur Leitformel werden. Ein akustischer Trip. "XXXX" kommt aus dem Vokabular der Strategiespiele "Context", das machte für mich im Hinblick auf den Improvisationskontext Sinn. Man ist in einem Modus, in dem man sich in einem neuen Territorium zurechtfindet, aufbaut, teilweise auch aggressiv etwas übernimmt, es ausreißt, zu seinem Eigenen macht und es wieder abstösst. States of Exploration — das ergab am Ende ein schlüssiges Bild für das, was an diesen Abenden stattgefunden hat. Außerdem ist es ein Titel, der an nichts anschließt, was ich in letzter Zeit gemacht habe. Das X als Kreuz hat ja auch etwas Abgrenzendes, es kann für Tabula Rasa stehen. Es ist eine Gratwanderung. Ein Titel ist für mich etwas, das Räume öffnen kann. Man erschafft Referenzen, die dadurch mitschwingen. Aber je mehr man darüber spricht, umso mehr schließt man die auch wieder, engt sie ein.
Das X kann auch, wie Sie erwähnt haben, für einen Bruch stehen. Kurz nach diesen Abenden im A-Trane kam der erste Lockdown — und Sie haben in der Isolation das Album "Mondenkind" aufgenommen. Wie haben Sie die Aufnahmen erlebt?
Zwischen diesen beiden Platten steht der größtmögliche Gegensatz. Das eine entstand im Club, ganz nah, intensiv, mit Austausch, Kommunikation und Ekstase. Das andere: Alleine, im großen Raum, viel Raum zum Nachhören, Einsamkeit im positiven und negativen Sinn. "Mondenkind" ist ganz am Anfang dieser Zeit entstanden. Der Eindruck des Lockdowns war für uns alle ein völlig neuer, man kannte diese völlige Zäsur in allem bis dahin gar nicht. Unter diesem Eindruck eine Solo-Platte aufzunehmen, hat dieses Gefühl verstärkt. Dieses Gefühl, alleine in diesem großen Raum zu sein; mit sich selbst konfrontiert, abgekapselt zu sein.
Die Aufnahmesession war lange im Voraus geplant. Es gab die Idee, genau in diesem Raum aufzunehmen — ein klassischer Raum mit einer ganz anderen Soundästhetik als in einem Jazz-Akustikstudio. Der Flügel stand in einem Konzertraum, die Mikrofone relativ weit weg. Das war konzeptionell die wichtigste Entscheidung. Komplette Konzentration auf ein akustisches Instrument in einem akustischen Raum: Das sollte das Solo-Album sein. Das hat sich mit der Lockdown-Situation schlüssig verbunden. Man spürt die Einsamkeit umso mehr, je größer der Raum ist.
Waren die Stücke von "Mondenkind" schon vor der Pandemie fertig?
Ich hatte eine große Auswahl von Stücken, es hat sich in den letzten vier Wochen aber auch noch relativ viel geändert. Ich kenne das von anderen Projekten: Dass es sich im Endspurt zu einer Aufnahme oder zum Konzert noch einmal viel ändern kann. Die Stücke, die Auswahl, die Konzeption, die gab es schon vor Corona. Einige Stücke bei "Mondenkind" sind ja auch freie Improvisationen — auch das hatte ich mir schon lange vor der Session vorgenommen. Ich wusste aber noch nicht, was das sein würde, wie es sich mit dem anderen Material verbindet und was dadurch entstehen könnte. Es sind dann im Endeffekt diese Interludien geworden, die das Album zusammenhalten. Es war ein absurder Moment, so lange ein Soloalbum geplant zu haben und kurz vor der Aufnahme einen Lockdown zu bekommen. Das hat es um einiges surrealer gemacht.
Die Albumlänge, 46 Minuten 38 Sekunden, ist ja nicht zufällig gewählt – sondern spielt auf den Astronauten Michael Collins an, der auf der dunklen Seite des Mondes genau diese 46 Minuten und 38 Sekunden völlig isoliert war. Können Sie das erläutern?
Noch während der Studioaufnahmen habe ich intensiv über die Situation mit Michael Collins nachgedacht. Diese Einsamkeit im großen Raum, dieses Abgeschirmtsein, dieses zwischen all den technischen Geräten seine Signale rauszufunken: Da gab es einfach mehrere Tangenten, sodass diese Geschichte besonders zu mir sprach. Ich war immer fasziniert von diesem Umstand, dass es diese etwa 46-minütigen, totalen Blackouts an Bord gab. Gleichzeitig arbeitete ich an der Auswahl von Tracks und hatte immer eine ungefähre Spieldauer von 46 Minuten. Irgendwann dachte ich: "Moment, da überschneidet sich etwas, da wirkt etwas zusammen". Letzten Endes haben wir, um genau auf diese Zeit zu kommen, bei einem Stück fünf Sekunden weggenommen, dass wir genau auf diese Sekundenzahl kommen.
Ich denke noch sehr altmodisch in Albumform. Eine Kollektion von Musik, die eine Idee umkreisen, eine Art Suite, eine Collage aus sich ergänzenden, stimulierenden Themen und Inhalten. Dabei habe ich neben der Musik beispielsweise noch die Möglichkeit von Cover und Titeln, um dem Zuhörer etwas mitzuteilen. Aber auch die Länge des gesamten Albums ist ein Teil dieser Inszenierung. Ich habe mich immer über skurille Albenlängen gefreut, über Alben, die 55:55 oder 1:00:1 dauern. Ich dachte immer, das kann nicht zufällig sein, das macht alles besonders rund oder besonders symmetrisch. Auf diesem Album erzähle ich nun eine Geschichte über Zeit und das Alleinsein, und wenn man dieser Geschichte lauscht war man am Ende genau so lange allein mit der Musik wie damals dieser Michael Collins. Das schien mir stimmig. Es ist nur ein kleines Detail, aber demjenigen, der es bemerkt, lenkt es die Gedanken in eine bestimmte Richtung. Ich denke da ein wenig wie, sagen wir, ein Regisseur: alle Details der Inszenierung ordnen sich der Geschichte unter, alles kann wichtig sein, nichts muss zufällig bleiben.
Ich behaupte mal, dass konservatives Arbeiten die wildesten Ergebnisse produzieren kann, wenn nur genügend Raum fürs Experiment bleibt.
Sie sind Hochschulprofessor an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. Das universitäre Umfeld ist ja bekannt dafür, gerne mal etwas konservativ und puristisch zu sein — Ihre Arbeit ist hingegen oft genreübergreifend, experimentell. Gab es da jemals Widersprüche?
Hochschulen sind im besten Fall geschützte Orte für viele Optionen und Möglichkeiten! Für mich ist es immer wieder inspirierend, dass man gerade an Hochschulen extrem viele Impulse kriegt, die in ganz unterschiedlichen Kanälen und Richtungen Ideen entstehen lassen. Das habe ich auch in meiner Studienzeit erlebt: Wir hatten eine Dozentenschaft von Individuen, die alle für ganz unterschiedliche Dinge standen. Man konnte verschiedene Türen öffnen und reingucken. Das war nie ganz frei von Widersprüchen, aber irgendwie auch gerade deshalb so lehrreich und ermutigend.
Hochschulen kenne ich also als Orte der Vielfalt. Wir bemühen uns in Leipzig an geeigneten Stellen sehr um Raum für Experimente, und mein Begriff von Jazz ist ganz allgemein sicher eher weit gefasst. Gleichzeitig bin ich als Lehrer methodisch insofern konservativ, als dass ich davon überzeugt bin, dass man seinen eigenen Weg gerade in der Konfrontation mit der Geschichte, der Tradition, mit dem, wo alles herkommt, finden kann. Gerade im letzten Jahr haben wir uns beispielsweise in einem Seminar wieder eingehend mit der Geschichte des Jazzklaviers von 1850 bis 1950 beschäftigt - viel Hören, viel Transkribieren, viel Nachspielen und Verstehen. Um wirklich frei und eigenständig agieren zu können, muss man großes Vertrauen in eigene Ideen entwickeln, sollte aber eben andererseits auch den Kontext kennen. Und ich denke es macht Sinn an dieser Stelle zwischen Prozess und Ergebnis zu unterscheiden: ich behaupte mal, dass konservatives Arbeiten die wildesten Ergebnisse produzieren kann, wenn nur genügend Raum fürs Experiment bleibt.
Es bleibt also eine Frage der Balance, und da gehören Widersprüche eher dazu, als sie um jeden Preis vermeiden zu wollen. Anders gesagt: Hochschulen sind Orte an denen man Dinge herausfinden kann, und — wie Joachim Kühn sagt: Je mehr du weisst, desto freier bist du! Das erlebe ich hier jeden Tag.
"XXXX" erscheint via ACT Music.
Mehr Infos über Michael Wollny gibt es auf seiner offiziellen Website.
Comentários